Hiddensee 02 - Totenseelen by Lautenbach Birgit

Hiddensee 02 - Totenseelen by Lautenbach Birgit

Autor:Lautenbach, Birgit [Lautenbach, Birgit]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783442468553
Herausgeber: Goldmann
veröffentlicht: 2014-03-28T16:00:00+00:00


10

Es gibt eine Fotografie, die uns drei vor Lissis Elternhaus zeigt. Es stand dort, wo heute die Bettenhäuser des Seeblick verrotten, auf einer baumlosen, struppigen Wiese mit kaum genug Gras für die eine Kuh, die alle paar Stunden umgepflockt wurde. Ein niedriger Zaun umgab das kleine Haus, dem man ansah, dass seit langem das Geld für einen vernünftigen Anstrich fehlte.

Was für uns Armut war, galt bei den Fremden als malerisch. Auch für den sonderbaren Fotografen, der jedes Jahr im Sommer schräg gegenüber bei Schluck logierte, um dann mit seiner sperrigen Ausrüstung über die Insel zu ziehen und die alleralltäglichsten Dinge zu fotografieren. Steine zum Beispiel, oder Bäume. Wellen. Nie waren Menschen auf seinen Bildern, mit denen er es angeblich zu einiger Berühmtheit gebracht hatte. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet bei uns eine Ausnahme machte. Aber er tat es und schenkte jeder von uns einen Abzug auf festem teegelbem Karton. »Drei Meerjungfrauen« hatte er mit schwarzer Tinte auf die Rückseite geschrieben, darunter die Jahreszahl. »1937«.

Ein Glücksjahr, dachten wir, in dem nur Gutes passiert.

Zum Beispiel, dass Lissi nicht mehr bei Freese arbeitete, sondern als Zimmermädchen im Dornbusch. Es machte ihr nichts aus, schon im Morgengrauen an den Wiesen entlang nach Kloster zu laufen und oft erst spät am Abend zurück nach Vitte. Sie gefiel sich mit Schürze und Häubchen und freute sich, wenn die Herrschaften, für die sie die Betten machte und Waschgeschirre leerte, ihr ab und zu ein paar Pfennige zusteckten. Die Gäste wussten zu schätzen, dass sie ihre Arbeit gern tat, und im Überschwang der Sommerlaune konnte es vorkommen, dass man sie aufforderte, ein Glas von der gekühlten Limonade mitzutrinken, die sie zur gewünschten Zeit an den Strand trug. Oder man drückte ihr eine Boccia-Kugel in die Hand, damit sie sich mit ein paar Würfen versuchte. Was nicht hieß, dass die Grenzen sich auflösten. Sie verschwammen nur manchmal, und Lissi war unbeschwert genug, dabei mitzutun. Trotzdem blieb sie auf der Hut. Sie wusste, dass neben jedem ausgelassenen Gast einer lauern konnte, der an ihrer Unbefangenheit Anstoß nehmen und sich beschweren würde, und dafür wollte sie keinen Anlass geben.

Daran hat sie entweder nicht gedacht oder vielleicht nur zu lange gezögert, als Richard Schlesinger ihr begegnete.

»Erlauben Sie, dass ich Sie ein Stück begleite?«, fragte er formvollendet mit der Andeutung einer Verbeugung.

»Warum nicht?«, antwortete sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte sagen sollen, ohne unhöflich zu sein. Und ein bisschen wohl auch, weil er an der Wegbiegung auf sie zutrat, wo sie den Baracken am nächsten war. Von dort drang das Grölen der Männer herüber, die auch nachts ihre Stimmen nicht dämpften, mit denen sie tags über den Lärm der Baustelle hinwegbrüllten. Sie war jedes Mal froh, wenn sie dieses Stück ihres Heimwegs hinter sich gebracht hatte, ohne von jemand bemerkt worden zu sein.

Sie kannte Richard Schlesinger. Sein schüchternes Lächeln, seine linkischen Bewegungen, für die seine lauten, zackigen Brüder nur Spott übrig hatten. Also, warum nicht?

Ein rechtes Thema, über das sie auf ihrem Weg hätten reden können, fanden sie nicht. Das Wetter: warm und hochsommerlich.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.